Für den 12. März 2020 hatte die Österreichische Akademie der Wissenschaften (ÖAW) in ihren Räumen in Wien IV., Wohllebengasse 12-14, einen Vortragsabend über zwei westmongolische Themen anberaumt. Forschungsberichte von Gennady Korneev MA, Direktor des Kalmykischen Zentrums für Sprachentwicklung in Elista, sowie von Frau Otgonbayar Chuluunbaatar MA, Ethnologin und Sprachwissenschaftlerin der Mongolischen Akademie der Wissenschaften, standen auf dem Programm.
Im Zuge der Maßnahmen gegen die CORONA-Pandemie 2020 mussten die öffentlichen Vorträge jedoch leider abgesagt werden, und es fanden die Referate nur im internen Rahmen statt. Mit diesem Veranstaltungsbericht sollen jedoch auch die Folien der Referenten (nach deren Zustimmung) der interessierten Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt werden.
Die Kommission „Vanishing Languages and Cultural Heritage“ (VLACH) der Österreichischen Akademie der Wissenschaften
Die Kommission „VLACH“ wurde im September 2016 mit dem Ziel gegründet, die vom Aussterben bedrohte sprachliche und kulturelle Vielfalt weltweit zu dokumentieren und zu analysieren. Sie bemüht sich dabei um ein Vermächtnis, das über Analysen und langfristige Archivierung sprachlichen und kulturellen Erbgutes hinausgeht, indem die akademische Befassung mit Sprachen verstärkt wird und Sammlungsmethoden angewendet werden, die sowohl der wissenschaftlichen Forschung als auch den Gemeinschaften selbst besser helfen soll, ihr kulturelles Erbe zu bewahren.
Im einzelnen verfolgt die Kommission die Aufgaben:
- vom Aussterben bedrohte Kulturen und Sprachvarianten zu erkennen, zu priorisieren und zu dokumentieren,
- Dokumentationsprojekte zu entwickeln und durch diese die öffentliche Anerkennung und Vertretung der Sprachgemeinschaften zu fördern,
- fokussierte Studien zur Analyse sprachspezifischer Veränderungen zu entwickeln und Phänomene der Gefährdung und des Verschwinden von Kulturen und sprachlichen Varietäten zu identifizieren,
- die Förderung der Sprache innerhalb der Sprachgemeinschaften zu unterstützen und junge Wissenschaftler zu Sprach- und Kulturdokumentationen zu ermutigen,
- die Vernetzung von Sprachgemeinschaften untereinander auszuweiten.
Die Kommission leitet Prof. DDr. h.c. Thede Kahl als ihr Obmann.
Das Kalmykische Zentrum für Sprachentwicklung in Elista ist eine Neugründung und ist dabei, geeignete wissenschaftliche und sicherlich auch sprachpolitische Aktivitäten zu entwickeln. In einer autonomen Region wie der der buddhistischen Westmongolen in der Kaspischen Senke spielt ein solches Thema ja nicht nur auf dem Feld der Erforschung von Sprache und Schrift, sondern ist sprachpsychologisch das Kernthema der Erhaltung einer völkischen Identität der kalmykischen Gesellschaft. Sachpolitisch ist dies natürlich in ganz besonderer Weise eine Bildungsaufgabe, aber auch verschiedene Wissenschaftsbereiche im Autonomiegebiet, im heutigen Rußland und auch in dessen neuer mongolisch-türkischer Nachbarschaft Westasiens sind davon berührt. Sie betreffen außer Geographie und Geschichte vor allem Kultur und Religion, aber auch Medizin, Astrologie und nicht zuletzt Volkskunde und Brauchtumsforschung. Das Bildungministerium Kalmykiens sieht in diesem Zentrum vier Dauerstellen vor.
Die Leitung der Forschungseinrichtung hat Gennady Korneev, MA als Direktor inne.
Gennady Korneev: Kalmykische Sprache und Schrift: Geschichte, Probleme und Perspektiven
Kalmyken sind Menschen oiratischer (d.i.: „westmongolischer“) Herkunft, die in den letzten 400 Jahren in den nordkaspischen Steppen Europas gelebt haben. Die Sprache der Kalmyken gehört zur Gruppe der Westmongolischen Sprachen, die sich aus der klassischen Oirat-Sprache entwickelt haben. Kalmyk hat sein eigenes Alphabet, genannt „Todo bichig“ oder „klare Schrift“, das 1648 vom außergewöhnlichen „Erleuchteten“ Zaya Pandita (oder Namkhai Jamzo) geschaffen wurde. Diese Schrift war fast 300 Jahre in Gebrauch, wurde jedoch 1924 von der emporgekommenen Sowjetmacht abgeschafft. Die Literatur des „Todo bichig“ hat eine umfangreiche Tradition, Texte existieren als Originale und wurden auch vielfach übersetzt, einschließlich Werken zu Religion, Geschichte, Kultur, Medizin, Astrologie, Geographie und Brauchtum.
Das Kalmykische hat in historisch sehr langer Zeit, in der seine Sprecher weit entfernt von verwandten mongolischen Gemeinschaften lebten, gewisse Einflüsse sowohl von Seiten der russischen als auch der türkischen Sprache erfahren. Gegenwärtig ist es die Sprache der kalmykischen Bevölkerung der gleichnamigen Autonomen Republik der Russischen Föderation; darüber hinaus wird es aber auch (oder noch immer) in einigen kalmykischen Dörfern, die mono-ethnische Enklaven außerhalb dieses Territoriums sind, verwendet. Jedoch trotz der Tatsache, dass es verschiedene Massenmedien in kalmykischer Sprache gibt (zB. in Form der Zeitung „Khalʹmg unn“, oder des Literaturmagazins „Teegin Gerel“) und diese auch in Radio und Fernsehen verwendet wird, stirbt die Sprache allmählich ab. Deshalb und aufgrund einer Reihe historischer Umstände steht die Sprache Kalmykisch heute auf der Liste der gefährdeten Sprachen der UNESCO.
In seinem Vortrag widmet sich Gennadi Korneev auch ausführlich der Geschichte der Einwanderung der Kalmyken in die Steppen an der Grenze Osteuropas zu Asien. Er erläutert eingehend die literarische Sprache der Kalmyken anhand ihrer „vorrevolutionären“ Literatur. Ein besonderes Anliegen ist ihm das Problem der Transformation des Selbstbewusstseins eines Volkes, das sich im Umfeld einer fremden Sprache, einer fremden Kultur und nicht zuletzt auch einer fremden Religion ja nur zu einem Teil behaupten vermag. In diesem Zusammenhang geht er auch auf die Versuche der kalmykischen Intelligenz ein, die nationale Identität zu bewahren. Schließlich geht der Vortragende auch der Frage nach, warum die Sprache der Kalmyken derzeit vom Aussterben bedroht ist, und er leitet davon auch seine Überlegungen zu möglichen Wegen einer Wiederbelebung des Kalmykischen ab.
Otgonbayar Chuluunbaatar: Die seltene Oirat-Tanzlied-Tradition in der Westmongolei
Die mongolische Ethnologin und Sprachlehrerin Otgonbayar Chuluunbaatar MA – sie ist Mitglied der Mongolischen Akademie der Wissenschaften – hat sich ausführlich mit dem „Oirat-Tanzlied“ befasst, welches ein selten gezeigtes Merkmal des sogenannten „Jangar Epos“ in der Westmongolei ist. Man nimmt an, dass das Epos in der heute zu China gehörenden Region Dsungarei entstanden ist. Speziell das Volk der Kalmyken erachtet dieses Epos als eine seiner traditionellen dichterischen und musikalischen Kunstformen, doch es ist überall in der Mongolei zu finden, daneben in den „mongolischen“ Regionen Chinas, und es erzählt auch in Russland seine Geschichten. Ein Sänger, genannt Jangarchi, rezitiert sprachlich sehr umfangreich seine Erzählungen in zahlreichen Kapiteln oder Strophen, meist etwa 25 an der Zahl, doch manche Versionen umfassen auch 100 oder noch mehr.
In vielen Jahren der Feldforschung im mongolischen Altai-Gebirge ist Otgonbayar auf einen außergewöhnlich seltenen Tanz gestoßen, den heute nur noch sehr wenige Mitglieder der Oirat-Gemeinschaft aufführen können. Die Forscherin hat Texte des Liedes zu diesem Tanz sowie die künstlerischen Darbietungen der Tänzer über mehrere Jahre aufgenommen und dokumentiert. Die Performance dieser Kunstform unterscheidet sich deutlich vom typischen westmongolischen „Biy“-Tanz-Genre.
Die besondere Form des Tanzes, welche die Vortragende beobachtete und aufzeichnete, unterscheidet sich sowohl in seinem Präsentationsstil als auch im Inhalt der Texte vom „Biy“-Tanz und zeigt dafür deutlich die rituelle Form des Epos. Dieser spezielle Tanz wird mit einem „Altain Magtaal“, dem Loblied des Altai-Gebirges eingeleitet, einem weiteren Element, das für eine epische Darstellung repräsentativ ist.
Die aufgenommenen Liedtexte stellen einen Helden dar, der einer Figur aus dem Jangar-Epos ähnlich ist und von seinem Leben als Anführer und Kriegsherr erzählt. Darüber hinaus erhält auch sein Lieblingspferd reichlich Aufmerksamkeit, was sich schon im Titel des Tanzes widerspiegelt. Die Bedeutung dieses Tanzes und seines Liedes liegt in der seltenen und einzigartigen Qualität, die ihn als traditionelle Form der Volkskunst auszeichnet.
Bericht von Dr. Franz Greif, Präsident der Österreichisch-Mongolischen Gesellschaft „OTSCHIR“
Schreibe einen Kommentar